Künstler Victor Reichert entfernt die Schablone

"Langer Schatten" am Stolperstein von Wolfgang Brühl führt zu halleschen Tätern der Aktion T4

Elke_Arnold | 24.01.2024 Entdecken

In einer öffentlichen Aktion hatte der Künstler Victor Reichert am 18.1.2024 ein Gedenkgraffito am Stolperstein von Euthanasieopfer Wolfgang Brühl am Alten Markt 12 in Halle angebracht. Das Stadtmuseum Halle unterstützte das Projekt und nimmt dabei die Täter in den Blick.

Drei Ärzte, Absolventen der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg waren Ideengeber und Beteiligte an "Aktion T4":  Zwischen Januar 1940 und September 1941 wurden über 70.000 Kindern, Frauen und Männern ermordet, die krank, verhaltensauffällig oder behindert waren. Der 18. Januar 1940 markiert den Beginn der Transporte in die Tötungslager.

BURG-Absolvent Victor Reichert hatte in seiner Masterarbeit die Idee entwickelt, Stolpersteine um „Lange Schatten“ zu ergänzen. Auf einem mit Kreidespray und Schablone aufgetragenem Textfeld sollen Vorübergehende die Geschichte des Menschen auf dem Stolperstein erfahren, ein QR-Code verweist auf weiteres Material auf der Seite des Zeitgeschichten e. V.

Künstler Victor Reichart und ein Jugendlicher beim Auftragen des Grafittos an der Hauswand

Foto: Thomas Ziegler

Victor Reichert: Ich habe mich gefragt: Wie ist es möglich, mehr über die Menschen zu erfahren denen Stolpersteine gewidmet sind? Entstanden ist ein temporäres und partizipatives Street-Art Projekt, das es erlaubt, den Menschen hinter den Stolpersteinen zu begegnen und die Gesellschaft in die Pflicht nimmt, die Erinnerung an diese Menschen am Leben zu erhalten.

Beim Anbringen des Graffitos am Stolperstein von Wolfgang Brühl wurde Victor Reichert von Schülerinnen und Schülern des Lyonel-Feininger-Gymnasiums unterstützt.

Auf dieser Schule, nur wenige Minuten von seinem Wohnhaus am Alten Markt 12 entfernt, lernte auch Wolfgang Brühl, bis er an einem Tag im Jahr 1935 nicht nach Hause kehrte. Eine Mitarbeiterin des Gesundheitsamtes hatte ihn abgeholt. Der Grund laut Krankenakte waren „Erziehungsprobleme“. Vermerkt ist dort auch, das er als krankhaft unruhig, ängstlich und überempfindlich galt. Brühls Odyssee beginnt in einem Erziehungsheim in Nordhausen, führt über die Neinstedter Anstalten, einer diakonischen Einrichtung für geistig behinderte Kinder und Jugendlichen in die Landesheilanstalt Altscherbitz und endet am 16. Juni 1941 in der Tötungskammer der „Heil- und Pflegeanstalt“ Bernburg. Seine Mutter hatte vorher erfolglos versucht, ihn nach Hause zu holen. Wolfgang Brühl wurde nur 14 Jahre alt.

Die beteiligten Jugendlichen aus dem Feiningergymnasium interessiert das Schicksal des Jungens vor 74 Jahren. „Es gibt viele Stolpersteine in Halle, aber kaum jemand kenne die Geschichten dazu.“ sagt der 17jährige Luca.

3 Jugendliche aus dem Feiniger-Gymnasium hocken vor dem Grafitto, dahinter Künstler Victor Reichert und Jane Unger aus dem Stadtmuseum

Foto: Thomas Ziegler

Stadtmuseum sucht in dunklen Kapiteln der Stadtgeschichte

Menschen mit Beeinträchtigungen früher und heute in Halle standen im Mittelpunkt der 2019/20 im Stadtmuseum Halle gezeigten Ausstellung „Geschichten, die fehlen“. Die Recherchen für den historischen Teil führten zu Dr. Horst Schumann und zu drei weiteren halleschen Ärzten, Absolventen der Martin-Luther-Universität. Sie waren am Konzept und Umsetzung des Euthanasieprogramms T 4 beteiligt und sind damit auch für die Ermordung von Wolfgang Brühl verantwortlich. Schumann und seine Kollegen führten zudem zahlreiche Menschenexperimente durch, um operationslose Massensterilisationen zu ermöglichen. Oft führten die Experimente zu einem qualvollen Tod der Versuchsopfer.   

Jane Unger, Direktorin des Stadtmuseums: Als Stadtmuseum fühlen wir uns in der Pflicht, auch die dunklen Seite der Stadtgeschichte abzubilden. Wie kam dazu, dass Ärzte wie Dr. Horst Schumann zu Tätern wurden, erst einen hippokratischen Eid schwörten und später „lebensunwertes Leben“ vernichteten? Welchen Anteil hatte die Martin-Luther-Universität als Kaderschmiede für NS-Täter? Es ist an der Zeit, zu den Tätern zu forschen und deren Biografien vor, in und vor allem auch nach der Zeit des Nationalsozialismus ans Licht zu bringen.

Einen Ansatz zur Auseinandersetzung mit den Täterbiografien bietet das Stadtmuseum Halle mit seinem pädagogischen Format  „Dr. Horst Schumann und die Euthanasiemorde im Nationalsozialismus“. An Hand von ausgewähltem historischen Aktenmaterial und Originalobjekten in der Ausstellung „Entdecke Halle!“ können Jugendliche ab Klasse 8 zu Schumanns Leben und Wirken auch nach dem Krieg recherchieren. Der Mediziner hatte sich 1951 einer Verhaftung durch Untertauchen im Sudan und in Ghana entzogen. Erst 1970 in Frankfurt (Main) rechtskräftig verurteilt, wurde er im Juli 1972 wieder entlassen.

Anfragen zum pädagogischen Format nimmt das Stadtmuseum über stadtmuseum@halle.de oder 0345-2213030 entgegen.

Patenschaften für „Lange Schatten“ gesucht

Damit möglichst viele Geschichten von den Menschen hinter den Stolpersteinen im Stadtbild sichtbar gemacht werden können, bietet Künstler Victor Reichelt an, weitere Schablonen herzustellen. Die mit Kreidespray aufgebrachten Informationen sind abwaschbar und verblassen mit der Zeit. Anlassbezogen können sie jederzeit neu aufgetragen werden.
 

Interessierte Personen können zu Norbert Böhnke Kontakt aufnehmen: per E-Mail an norbert.böhnke@halle.de oder telefonisch an 0345-2213353.

Weiterführende Links

Kommentare